Als ich in das Sicherungsgeschirr schlüpfe, denke ich noch, dass kurze Hosen wohl keine so gute Idee waren. Die Gurte liegen um meine nackten Oberschenkel, wie vorher vielleicht schon bei einigen anderen Benutzenden. Den ganzen Morgen beobachtete ich das Wetter. Hoffentlich regnet es nicht zu stark, hoffentlich brennt die Sonne nicht so sehr. Immerhin dauert die Tour über das Dach des Olympiastadions fast eineinhalb Stunden. Seit der angekündigten Renovierung sind die Plätze begehrt und lange vorher ausreserviert. Ich habe welche an einem Samstag zwischen zwei starken Regenschauern erwischt, wie sich später herausstellen wird.

Das Dach des Olympiastadions von oben sehen wollte ich schon lange mal – mindestens seit mich die Faszination um dieses Bauwerk gepackt hat. Unzählige kleine Netzvideos und Archivaufnahmen des BR später lasse ich mich vom Eintrittspreis nicht mehr abschrecken. Fast 50 € soll das Vergnügen kosten. Mit der Teilnahmeerklärung bestätige ich, dass ich nicht unter Höhenangst leide. Erst da fallen mir wieder das flaue Gefühl im Magen und die weichen Knie auf der Aussichtsplattform des Edge in NYC ein. Die Sicherheitsscheiben neigen sich dort nach aussen. ich habe es nur unter viel gutem Zureden und Atmen geschafft, an den Rand zu treten. Jetzt will ich am Rande eines durchsichtigen Daches spazierengehen. Eigenartig, wie sich manche Dinge ändern, wie ich einerseits eine gewisse Ängstlichkeit entwickelte, andererseits mein Gedächtnis immer noch jugendliche Furchtlosigkeit statuiert. Als sei da ein Raum in meinem Kopf, in dem die Zeit still steht. So bin ich beim Blick in einen Spiegel oder auf ein Bild von mir immer noch eine Millisekunde erstaunt ob mancher körperlichen Veränderung. Dieser Abgleich von zeitlosem Selbstbild und direkter Aussenwahrnehmung und die damit einhergehende kognitive Dissonanz, das fühlt sich nicht gut an.
Am Treffpunkt geben wir alle losen Gegenstände, Taschen und Handys ab, dann gibt’s einen 20 minütigen Film aus dem BR Archiv über den Bau des sogenannten Zeltdaches. Später werde ich noch sehr viele Filme im Netz gucken, weil mich die Schilderung des Tourguides fasziniert, wie das Dach erst von Kränen hochgezogen, dann nach Fertigstellung simultan abgekoppelt wurde und sich etwa acht Minuten einschwang, was alle Beteiligten mit Spannung von der gegenüberliegenden Seite beobachteten. Man war sich nicht sicher, ob die ganzen Berechnungen der Realität standhalten würden. Leider finde ich kein Video dieses ungemein spannenden Vorgangs. Was ich aber finde, sind Schilderungen der einzelnen Planungsphasen der Architektengruppe um Frei Otto und das Büro Behnisch. Hinweisen möchte ich auf den Film ‚Spanning the Future‘, der die Entwicklung Frei Ottos ausführlich beschreibt. Wer’s kürzer möchte, für den hat die Ingenieurskammer nach der Beschreibung etwas zu bieten oder dieses Video aus dem BR Archiv oder einige Zahlen in einer Minute. Später werde ich viele Stunden im Netz mit diesen Schilderungen verbringen. Wie muss dieser monumentale Bau auf die damalige Bevölkerung, auf meine Großeltern und Eltern gewirkt haben? War man sich damals bewußt, dass hier etwas ganz Einmaliges entsteht oder haben sich die Meisten vor allem über die Kosten echauffiert, wie es künftig immer wieder bei öffentlichen Gebäuden der Fall sein wird? Vor allem aber stellt sich mir die Frage, welchen Zugewinn – abgesehen von der für Olympia entstehenden U-Bahn – die einfachen Leut‘ davon haben. Es fühlt sich an, als ob ich meine eigene Geschichte recherchiere.
Der Gang auf dem Rande des Daches selbst verläuft dann relativ unspektakulär. Wir steigen einzeln die Treppen am Anfang hinauf, werden mit einem Karabiner durch eine Rolle am Drahtseil seitlch des Steges gesichert. Ich führe meine Sicherung an einer Leine neben mir her. An den zusammengeschweißten Übergängen ruckelt’s und bremst es. Bis ich die richtige Technik raus habe, sind es nur noch wenige Meter bis zum Abstieg. Zwischendurch halten wir immer mal an und lauschen der Erzählung des Guides, während der Blick über Stadion und Stadt schweift. Beispielsweise dass die Arbeiter damals nicht gesichert waren und bei einem Sturz empfohlen wurde, die Arme und Beine auszustrecken, da der Abstand des Drahtnetzes nur 75 cm beträgt. Hat wohl so gut funktioniert, dass irgendwann auch Wettrennen zu Feierabend dort oben veranstaltet wurden und der Verlierer den Kasten Bier hochschleppen musste. Das behauptete jedenfalls ein Zeitzeuge. Ich bin die ganze Zeit gedanklich so beschäftigt, dass ich nicht zum Angst haben komme. Auch nicht als ich als erste zu einer der Erhebungen aufsteige. Der stufenlose Steg ist schon sehr steil, nur offene Noppen, die sich in meine Gummisohlen bohren und das Abrutschen verhindern. Später werde ich lernen, dass der Hauptsteg über dem sogenannten Stadionrandkabel verläuft (Erklärung ab 7:50), das Frei Otto spannte, um Säulen im Blickfeld der Zuschauenden zu vermeiden. Während wir unten an dessen Ende ausgehakt werden und um den Stadionrand zum Ausgangspunkt zurücklaufen, denke ich darüber nach, wie selbstverständlich gleichgültig ich Gewohntes wahrnehme, während ich mit ein wenig Hintergrundwissen beginne, darüber zu staunen. Das bedeutet im Gegenzug, durch Gleichgültigkeit beraube ich mich der Wunder meiner Umgebung. Oder einfach ausgedrückt: Neugier macht das Leben bunt.
An dieser Stelle eines meiner schönsten Fotos des Olympiadaches, entstanden vor einigen Jahren.
