The Usual

Eine ungewöhnliche Tendenz stelle ich derzeit in meinem Leben fest: während Manche dem Gewöhnlichen mit mannigfaltiger Ablenkung wie Reisen, Adrenalinkicks oder anderen Alltagsfluchten zu entgehen versuchen, finde ich seit längerer Zeit nur schwer zurück in’s Alltägliche. Natürlich, sagt der aufmerksam Lesende, liege der Grund dafür in meinen unregelmäßigen Arbeitszeiten. Doch während ich früher nach einer Tour fast augenblicklich wieder in meinen Alltag zurückfand, habe ich seit meiner Krise damit Probleme. Dabei weiß jedes Kind, dass Strukturen für das seelische Wohlbefinden wichtig sind. Einmal am Tag rausgehen (stupid walks for my stupid mental health), überhaupt Bewegung, Sport und Gesundes essen, soziale Kontakte pflegen, diesdasjenes. Alles kein großes Ding, man muss es halt tun und zwar regelmäßig. In meinem Kopf hieß das täglich (!).

Und genau da liegt der Knackpunkt. Ich ging nämlich davon aus, dass ich einfach meine prä-rezessiven Gewohnheiten wieder aufnehmen könnte, ungeachtet meiner möglichen Veränderung. Überhaupt ist das so ein Phänomen mit der Veränderung. Ständig sind wir alle damit konfrontiert, die faulenden Bananen in der Obstschale, die wachsenden Kinder, die Jahreszeiten, nichts bleibt wie es ist. Und doch suchen wir in uns nach diesem einen Punkt, an dem die Zeit still steht, klammern uns an eine Illusion und fürchten die Vergänglichkeit wie der Teufel das Weihwasser (sagt die, bei der eine leere Zahnpastatube bereits eine existentielle Krise auslösen kann). Womöglich braucht der Mensch den inneren Fixpunkt für seine geistige Gesundheit, weil er im Angesicht des täglichen und vor allem eigenen Sterbens sonst irre wird. Jedenfalls stellte ich fest, dass ich mich überhaupt nicht zu irgendwas zwingen muss, was mir gut tut (einen Scheißdreck muss ich! als T-Shirt Aufdruck). Alles, was ich tun muss, ist, mich um meine mentale Gesundheit kümmern. Der Rest kommt von alleine. So stehe ich halt jetzt nicht mehr jeden freien Tag um halb sechs auf, sondern schlafe bis halb elf, wenn ich erschöpft bin. Und wenn ich gerade stehen kann, stehe ich um halb sechs auf, denn dann habe ich Spaß im leeren Sportstudio. Und wenn ich das Bedürfnis nach Bewegung habe, gehe ich ins Tanzstudio oder zum Sport oder mache einen Spaziergang ungeachtet der Wetterbedingungen. Oder ich bleibe halt mal den ganzen Tag in meinen vier Wänden. Es dreht sich nicht mehr alles (nur) um Regelmäßigkeit, es geht vielmehr um Kontinuität.

Ja aber, werden Sie sagen, das ist keine besonders neue Erkenntnis, das wussten wir schon immer, dass Zwang über ein gesundes Maß hinaus nicht gut ist. Da sind Sie aber einem Denkfehler aufgesessen, denn Sie gehen von sich aus, was wir übrigens alle tun, weil wir mangels Kenntnis nicht immer andere Perspektiven einnehmen. Ich habe beispielsweise nicht gelernt, wie ich Selbstdisziplin in gesundem Maße leben soll. Es gibt einen Unterschied zwischen einer durchschnittlichen Person und einem Hochleistungserzielenden. Denken Sie an Athlet:innen, Kunstschaffende und andere Personen, die sich für Höchstleistungen immer wieder über die eigenen Grenzen schubsen. Und dann gibt es noch die Menschen, die durch die Umstände ihrer Erziehung nie das gesunde Mittel-Maß verinnerlicht haben. Ich habe für mich eine einfache Faustregel aufgestellt, mit der meine innere Aufsichtsinstanz beispielsweise morgens zwischen Aufstehen und nicht Aufstehen abwägt: wenn es sich jetzt unangenehm anfühlt aber später gut, dann tu’s; wenn es jetzt gut aber später unangenehm ist, dann lass‘ es. Denn das ist eine der drei Lernaufgaben einer jeden Therapie (die beiden anderen verrate ich vielleicht später mal): sei für Dich selbst das liebende (themenbezogen perfekte) Elternteil, das Du nie hattest.

.

.

Apropos Vergänglichkeit an dieser Stelle eine Empfehlung für eine Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne, die noch bis 8.6.25 zu besichtigen ist:

Gerhard Richter 81 Zeichnungen, 1 Strip Bild, 1 Edition

Ich war bei der Ausstellungseröffnung – eigentlich vor allem wegen der Freundin, die dort am Flügel musikalisch umrahmte. Und während wir noch die bunten Klebepunkte von den Saiten popelten – für ein modernes Werk musste sie Saiten markieren, die mit Schlegeln statt durch Tasten anzuschlagen waren – dachte ich über die kluge und gut verdaulich formulierte Einführung von Dr. Michael Hering – Kurator und Direktor der graphischen Sammlung – nach und über sein mit Richter geführtes Interview, in dem selbiger konstatierte, nicht mehr zu malen. Ein Interview, in dem Richter jede Frage in nur einem Satz beantwortete. Das muss man auch erst mal können. Vielleicht muss man dazu aber auch erst mal 93 werden. Jedenfalls fanden meine Musikerfreundin und ich die Position des Herrn Hering recht beneidenswert: Herumreisen und mit bekannten Kunstschaffenden sprechen, das hat schon was.

Schreibe einen Kommentar

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner