
OKTOBER
Während im Privaten zwar schmerzhafte aber lehrreiche Erkenntnisse sackten, durfte ich immer wieder schöne Ziele anfliegen. In Rio de Janeiro beispielsweise war ich zum ersten Mal und deshalb sogar nach über 20 Dienstjahren wieder aufgeregt wie am Anfang meiner Fliegerjahre. Fotos gibt’s davon nicht viele, weil ich meine wenigen Habseligkeiten nicht den Räubern undTaschendieben überlassen wollte – Überfälle gehören an den bekannten Touristenorten zum Tagesgeschäft. Deshalb fotografierte ich nur von der Hotelterrasse mit Blick über die Copacabana, und das war auch schon großartig. Die Kollegin verriet mir einen Insidertipp der Ansässigen: man geht in Gruppen weg, einer hat für Uber etc ein Handy dabei und wenn es bei einem Überfall entwendet wird, legt die Gruppe für ein neues zusammen. Am Wahlwochenende waren dann auch vorwiegend Einheimische in der Stadt anzutreffen – in Brasilien müssen Wählende bei Wahlpflicht an ihrem eingetragenen Wohnsitz wählen gehen. Der Samstag gestaltete sich dann am Stadtstrand sehr familiär. Kinder spielen in den Wellen, es werden Bälle geworfen, zwischen den Klappstühlen steht eine Kühlbox und die Beschallung aus kleinen Boxen daneben. So lässt es sich einen halben Tag in der Hitze aushalten. Überall wird Musik gemacht, nur wenig Samba, dafür von RocknRoll bis Hiphop alles was die Charts hergeben. Ich war auf dem Zuckerhut und am Strand, in einem Einkaufszentrum für ein Ladekabel und ansonsten sehr langsam unterwegs. Man möchte ja auch beim 10. Aufenthalt noch was entdecken können.

Auf Twitter stieß ich auf die – zugegebenermaßen für Werbezwecke erstellten aber dennoch hilfreichen – Beiträge von Psychologin Nicole LePera. Sie schafft es, die Auswirkungen frühkindlich geprägter Glaubenssätze in verständliche, kurze Beiträgen darzulegen. Meine Traumata waren mir durchaus bewusst, nicht aber das ganze drumrum. Da Verhaltensweise wie Muskeln funktionieren, beschloss ich schon vor langer Zeit, dass ich sie nicht mehr dem unbewussten Zufall überlassen wollte. Durch die Trennung – auch in der Rückschau auf vergangene – begriff ich einmal mehr, welche Mechanismen und Glaubenssätze mit da wohl in die Queere gekommen schienen. Ausserdem las ich viel über Neurodiversität. Und plötzlich wirkte der Mann gar nicht mehr so rational, er verarbeitet seine Eindrücke halt anders. Diagnose hat er keine – meinetwegen braucht er die auch nicht. Für mich hieß das Lehrstück meine eigene Einstellung verändert meine Umwelt. Nach zwei zusammen besuchten Parties wollten wir es auf einen neuen Versuch ankommen lassen.

NOVEMBER
Während in Deutschland das Wetter kalt und trüb wurde, konnte ich immerhin einmal pro Monat in wärmere Gefilde flüchten. Die Hotelaussicht formidabel, der Sonnenuntergang bombastisch, bloß war ich immer ein wenig müde drumherum. Mein Herz wärmte eine junge Frau, die mich seit unserem Kennenlernen Anfang des Monats mehrmals täglich mit kleinen Nachrichten bedachte. Uns Beiden war noch nicht klar, wohin diese Begegnung führen sollte. Ich konnte mir vorstellen für sie dieselbe Funktion einzunehmen wie es für mich meine mütterliche Freundin tut – der Altersunterschied war in jede Richtung identisch. Ich entdeckte meine Liebe für Hunde und Pferde neu, musste erleben wie kalt so ein Stall im Winter sein kann und lachte viel mit ihr. Es könnte auch daran gelegen haben, dass ich mich beim Reiten ein bisschen dumm anstellte. Immerhin lag meine aktive Reitzeit fast 40 Jahre zurück.
Dann hatte ich irgendwann morgens einen Fahrradunfall – das Auto kam unerwarteterweise falschrum aus einer Einbahnstraße und schubste mich vom Rad. Die blauen Flecken entdeckte ich erst viel später und mit dem restlichen Adrenalin trat ich anschließend noch eine Stunde eifrig auf das Fitnessrad im Studio ein.

DEZEMBER
Das Große Fest warf seine Schatten lange voraus. Die Familie des Mannes reiste aus dem restlichen Land an, um Weihnachten zusammen zu verbringen. Ich bekam sozusagen Weihnachtsasyl und lernte die Mutter sowie zwei Geschwister nebst Partner und Kinder kennen. Oder sie mich – so oder andersrum für mich kein Problem. Ich konnte mich ja zurücklehnen und mal eine fremde Familiendynamik als Unbeteiligte beobachten. Das Haus ist groß genug für acht Übernachtungsgäste, nur die Latexklamotten mussten im Vorfeld verräumt werden, weil die schwäbische Kleinfamilie derartigen Vorlieben generell eher ablehnend gegenübersteht. Auch nach Aufhebung der Maskenpflicht flog ich noch konsequent mit 3M Maske und benutzte sie in den Öffentlichen. Angesteckt hat mich dann am Heiligabend der kränkelnde Mann. Die folgenden Tage verbrachte ich fiebrig mal im Bett, mal auf der Couch liegend. Kranksein ist sehr blöd und kommt immer unpassend, denn mein Geschenk für den Mann sollte am 30.12. eingelöst werden. Das wahre Geschenk ist halt doch nur mit dem Herzen sichtbar und die Familie hätte auch nicht schlecht über diverse Accessoires unter dem Baum gestaunt.
Nächstes Jahr kann gar nicht besser werden, weil das jetzige die Messlatte schon ziemlich hoch gesteckt hat. Worauf ich verzichten möchte, sind grippale Infekte und Misskommunikation. Alles andere kann gerne so weitergehen.
Dann wünsche ich dir viel Gesundheit im neuen Jahr und beste Kommunikation!
Herzlichen Dank, das wünsche ich natürlich auch zurück!