Moving On

Mein Leben lang fielen mir Abschiede schwer, große wie kleine. Eine Freundin am Bahnhof verabschieden, eine Freundschaft beenden, einen Lebensabschnitt hinter mir lassen. Da passiert etwas in mir, das sich anfühlt als ob sich all meine Organe verkrampfen, sich meine Lunge zusammenzieht und meine Atmung nur noch aus einem dünnen Röcheln besteht. Je nach Schwere des Verlusts halten die körperlichen Stresserscheinungen einen Tag bis einige Wochen an. Natürlich weiß ich, woher das rührt. Als Kind habe ich viele Verluste alleine und ohne ausreichenden Trost verarbeiten müssen. Leider nützt mir meine Rationalität in dem Falle recht wenig. Einzig das Aushalten dieser Trauer und der Begleiterscheinungen bringen mich darüber hinweg. Meistens funktioniere ich in diesem Zustand nicht besonders gut, bin fahrig, nervös und hypersensibel, vergesslich und nicht wirklich im Stande, meinen Alltag zu meistern. In dieser Art Überlebensmodus bin ich hauptsächlich damit beschäftigt zu atmen.

Irgendwann in meinem Leben war ich müde vom Kämpfen. Immer wieder Situationen, die mich verletzen und die eine alte Wunde aus der Kindheit berühren. Ein Ende war nicht absehbar. Also beschloss ich, dem selbst ein Ende zu setzen. An der Durchführung haperte es, weil ich wohl doch nicht so gerne tot sein wollte wie zuvor angenommen. Oder weil ich mich vor dem fürchtete, was danach sein könnte, so ich mit Schädigungen überleben würde. Jedenfalls brauchte ich eine neue Strategie. Und weil ich nicht auf den Kopf gefallen bin, las ich alles über Trauma, was ich in die Finger kriegen konnte. Kein Buch, kein Filmchen und kein noch so kleiner Hinweis blieben von mir unbemerkt. Irgendwann wusste ich alles aber das Gefühl, bei Abschieden – genauer beim Verlassenwerden – innerlich zu sterben, war immer noch da. Was ich dabei schonmal gelernt habe, war die Unterscheidung zwischen dem, was direkt geschah und der Bedrohung, die nur in meiner Wahrnehmung lebte und in mir die heftigen körperlichen Reaktionen auslöste.

Meine Hoffnung war, je öfter ich den Weg erfolgreich absolviere, je öfter ich über mich hinauswuchs, den Zustand aushielt statt zu reagieren, desto eher ebben die unaushaltbaren Gefühle ab. Also lief ich lange Zeit mit einer tiefen Traurigkeit in mir herum. In meiner Erinnerung leben die schönsten Momente von dieser Schwere dunkel eingefärbt. Manchmal schämte ich mich dafür, vor allem dann, wenn mir jemand mit größeren Abständen immer wieder begegnete und ich diese Schwere immer noch nicht bewältigt hatte. Eine persönliche Bankrotterklärung für all meine Bemühungen, denn auf die Frage, wie es mir ginge, wollte ich stets ehrlich antworten. Dadurch begann ich mich in den schwierigsten Zeiten zurückzuziehen, wo ich doch Unterstützung und Wohlwollen am nötigsten hatte. Ein fataler Kreislauf, wie sich herausstellte.

Als ich alleine nur noch gegen innere Wände lief, nahm ich professionelle Hilfe in Anspruch. Die unterstützte mich bedingt, doch jede Therapie zielt nicht auf Auflösung von Problemen ab, sondern auf den Umgang mit den Begleiterscheinungen. Mit ein paar neuen Tricks in der Tasche sah ich mich bald wieder vom selben Zustand ausgehebelt. Ich wusste stets um meine innere Stärke, wusste, dass ich irgendwann wieder aufstehen würde und dass das Leben weitergeht. Doch während ich mit alten Dämonen kämpfte, war ich wieder kraftlos und so verletzlich wie einst das kleine Kind, das in der Situation zu nichts mehr in der Lage ist als zu atmen und zu weinen. Jede Todesnachricht weckte in mir die Sehnsucht zu sterben. Warum diese Person und nicht ich? fragte insgeheim mein Herz.

Die Kunst lebt vom Schmerz, weshalb ich nach Kunstschaffenden und Werken suchte, die mein innerstes spiegelten. Ganz früher spielte ich dann selbst schwere Literatur, hörte klassische Stücke mit solcher Inbrunst, dass ich mich im Schmerz der Komponisten völlig auflöste, las Künstlerbiographien, um besser zu verstehen und blieb doch damit allein. Später liebte ich Beuys, der mit solch einfachen Mitteln einen Zustand versinnbildlichte, dass etwas in mir beim Anblick aufbrach. Zeige Deine Wunden. Marina Abramovic schrie ihren Seelenschmerz hinaus oder transformierte körperlichen in neue Bewusstseinszustände. Also begann ich zu meditieren und auszuhalten. Irgendwann musste das doch mal bis zu Ende durchgefühlt sein. Öfter schrieb ich kleine Texte mit Anspielung auf Bühnenwerke, alte Legenden oder einfach nur diverse Metaphern – nicht sonderlich gut aber immer authentisch. Es musste doch möglich sein, in der Verletzlichkeit eine menschliche Verbindung zu schaffen. Langsam dämmerte mir, dass ein so menschlich immanentes Konzept wie Leid und Schmerz in dieser Daseinsform einfach zu mir gehört, ich darüber aber auch die Verbindung zum Innersten eines Mitmenschen finden kann. Und das wollte ich mehr als alles andere. Eine Verbindung schaffen wo das Leid durch die Abgrenzung und Einsamkeit täglich wächst.

Viele Ideen sind an ihrer Umsetzbarkeit gescheitert oder an meinen Fähigkeiten, manchmal auch an meiner Kraftlosigkeit und schlussendlich vor allem an der Erkenntnis, dass Jede und Jeder anders ist. Was für mich funktioniert, muss es nicht für andere. Dennoch könnte möglicherweise gerade diese Beschreibung auf einen Lesenden passen. So habe ich ein ums andere Mal fremde Worte gefunden, die mich lesend weniger alleine zurückließen. Es ist an der Zeit, die Scham über meine dunklen Zeiten abzulegen und sie nicht unformuliert zu negieren. Bereits vor einiger Zeit schrieb ich über Trauma. So schreibe ich diese Beschreibung, die mich unendlich viel Kraft kostet und die weder unterhaltsam noch besonders erkenntnisreich ist. Und während ich atme, denke ich, wie gut mein Körper seine Arbeit erfüllt und mich vor Gefahren schützt – ob real oder nur in meiner Erinnerung existent. Der Säbelzahntiger steckt nun mal in meinem System, den kriege ich da nicht raus. Aber die Reaktion meines Körpers zeigt mir auch, dass er überleben will und dafür alles tut was ihm möglich ist. Allein das ist schon ein wenig Anerkennung wert.

(geschrieben mit einem Ruhepuls von 96 SpM).

3 Gedanken zu „Moving On“

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