The Beast

Wenn Sie an dieser Stelle einen launigen Text erwarten, dann ziehen Sie bitte weiter. Es geht nämlich im Folgenden um ein ernstes und sehr persönliches Thema, das in Fachkreisen CPTSD (child post traumatic stress disorder) genannt wird. Die Auswirkungen holen mich immer wieder ein – mal milder und mal, wie in den vergangenen Tagen, durchaus dramatisch. Weil ich es in erster Linie für mich festhalte und nur in zweiter für ähnlich Betroffene, liegt mir nicht an Selbstoptimierung, Vollständigkeit oder Ratschlägen, sondern nur an der Schilderung meines subjektiven Erlebens. Mein Vorbild ist Christians Erzählung vom Umgang mit seiner Angststörung. So die Hosen runterlassen ist kein Waldspaziergang, das erfordert echten Mut. Lange Einleitung, ich weiß, das Ding geht halt nicht so geschmeidig wie leichtes Geplänkel von den Fingern.

Ganz zu Anfang steht also eine Traumatisierung. Auf jede Existenzbedrohung reagiert der Körper mit dem sogenannten Fight & Flight Reflex. Da meldet die Amygdala im Hirnstamm Gefahr und der Körper pumpt alles vorrätige Adrenalin bis in die letzte Haarwurzel. In dem Moment gibt es nichts wichtigeres als mittels Flucht oder Kampf zu überleben. Lustigerweise tut der Körper das auch, wenn die ursprüngliche Bedrohung entfällt. Nennt sich klassische bzw. operante Konditionierung – dazu später mehr. Ich erlebte als Kind größere und kleinere solcher Bedrohungen. Dazu muss man wissen, dass sich für ein Kind jegliche Form von Liebesentzug bedrohlich auswirken, weil Liebe oder Brutinstinkt Nahrung und Schutz gewährleisten. Wer von Nahrung und Schutz nix bekommt, stirbt. Unbewusst lernt der kleine Scheisser also ziemlich schnell, wie er Zuwendung generieren kann. Eine Traumatisierung muss nicht zwingend die Folge einer filmreif schrecklichen Kindheit sein. Das kann auch bei dauerhafter Vernachlässigung oder emotionaler Manipulation passieren. „Wenn Du das tust, hat Mami Dich nicht mehr lieb“, ist ein effektiver Manipulationsklassiker. Das Kind lernt schneller als es (weg-) laufen kann, dass die eigene Bedürfnisbefriedigung nur auf dem Umweg über die der Bezugsperson funktioniert und tut das, was von ihm gewünscht wird. Weitere Ausführungen erspare ich mir an dieser Stelle, die gibt’s in Buchform oder im Netz nachzulesen. Fast immer tut die Bezugsperson nur das, was sie einst selber unbewusst gelernt hat, um sich zu schützen. Eine ganze Kriegsgeneration hat ihre auf Traumata zurückgehenden Schutzmechanismen an die nächste Generation unbewusst vererbt, obwohl der Auslöser nicht mehr akut war. Womit ich bei meinen Bezugspersonen wäre. Meine Mutter ist keine schlechte Mutter. Sie hat halt das getan, was in ihren Möglichkeiten lag. Unter den damaligen Umständen war das eine ganze Menge.

Mein kleines Scheisserleben begann also unter einem ungünstigen Stern. Der Vater häufig alkoholisiert mit viel zu wenig Impulskontrolle und Tendenzen zur körperlichen sowie seelischen Gewalt, die Mutter in der Situation heillos überfordert, da selbst schutzbedürftig aber doch so weise, mich aus der gröbsten Schusslinie zu halten, indem sie mich anfangs nur über’s Wochenende und nach der Trennung wegen Erwerbstätigkeit ganz in die Obhut der Großmutter gab. Die Großmutter – interessanterweise die Mutter meines Vaters und Kriegsgeneration – starb, während sich in meinem Gesicht die ersten Pickel durch die Haut drückten. Ein lange unbewältigter und erst Jahrzehnte später betrauerter Verlust. Ich erinnere mich an anhaltende Gefühle vollkommener Taubheit in Abwechslung mit starken Ängsten, Sinnverlust und extremer Einsamkeit. Das Verhältnis zur Mutter war an diesem Punkt bereits dauerhaft gestört. Zugegeben war das von aussen betrachtet schon ein bisschen filmreif schreckliche Kindheit. Schlimmer als das Vermissen meiner Oma war für mich aber das damit einhergehende, plötzliche Erwachsenseinmüssen. Meine Kindheit endete mit 12, weil es dann niemanden ausser mir selbst mehr gab, der sich hätte kümmern können. Der Vater war zu dem Zeitpunkt Wiederholungstäter mit drei weiteren Kindern, von denen erstaunlicherweise nur eines ein schweres Trauma, eines generelle Schwierigkeiten im Vertrauensaufbau und eines scheinbar überhaupt nichts zurückbehalten hat aber sich möglicherweise in einer funktionalen Dauerschockstarre befindet. Jetzt wird vielleicht klarer, wieso ich so viel Konditional benutze. Übrigens wurde bei uns nie über irgendwas gesprochen. Weder meine Mutter noch ihr Familienzweig – beide Elternteile waren Einzelkinder, also ein sehr überschaubarer Kreis – sprachen jemals mit mir über die Ereignisse der Vergangenheit. Drüber reden und zwar so zeitnah wie möglich ist Empfehlung Nummer eins zur Bewältigung eines Traumas. Wenn sich die Schockstarre nicht löst, kapselt die Seele das Erlebnis im Unterewussten ab, weil die damit verbundenen Gefühle im akuten Stadium nicht bewältigt werden können. Das ist der Beginn eines posttraumatischen Belastungssyndrom. Die Alternative dazu sind zu späterem Zeitpunkt viele therapeutische Gespräche über diese eingekapselte Zeitbombe, die in jeder bedrohlich empfundenen Situationen zu ticken beginnt.

In meinen erwachsenen Jahren beschäftigte ich mich früh mit Bindungsstilen, und psychischen Krankheiten. In erster Linie wollte ich verstehen, was mit mir nicht stimmt, in zweiter, warum meine Eltern so sind wie sie sind. Im Urteil meiner Mutter war ich viel zu empfindlich, leicht eingeschnappt und reizbar, die restliche Verwandtschaft ordnete mich als überaus schwierig ein und generell litt ich unter der Ablehnung Gleichaltriger. Ich war der Pausenclown, der immer über’s Ziel hinausschoss. Das Gefühl der Einsamkeit war überwältigend. Obwohl die Auslöser von aussen betrachtet nichtig waren, bekam ich bei jedem Konflikt schweißige Hände, mein Magen zog sich zusammen und meine Urteilsfähigkeit war stark eingeschränkt. Jedes Mal, wenn sich jemand von mir abwendete, fühlte sich das an wie sterben müssen. Mein erster Impuls hieß immer Flucht, der zweite Kampf, meine Waffe waren Worte. Ich wurde Meisterin im Schlagabtausch und verbarrikadierte mich hinter einer Mauer sarkastischer Bemerkungen. Die Therapeutinnen und Therapeuten waren oft ratlos, denn mit intellektueller Brillianz hebelte ich viele davon einfach aus. Sie kennen den Film Good Will Hunting? So ähnlich lief das ab. Leider litt ich trotzdem unter extremen Alpträumen und anderen Einschränkungen. Bis ich eine Therapeutin kennenlernte, die genauso trocken und brilliant konterte. Da wurde mir klar, dass zwischen meinem Wissen und Leben ein emotionaler Abgrund klaffte. Ich musste da runtersteigen, um auf der anderen Seite anzukommen.

Hinter mir lag also eine verkorkste Kindheit, das Aufwachsen mit einer traumatisierten Mutter mit emotionalem Schutzwall, eine erste längere Beziehung mit einem Narzissten, Gaslightning inkludiert, und ein Selbstmordversuch wegen schier unaushaltbarem Seelenschmerz. Bis zum völligen Zusammenbruch brauchte es noch viele kurze Verbindungen mit unerreichbaren Männern, in die ich all meine Hoffnung auf Anerkennung und Liebe projezierte, ein in meinem erbarmungslosen Selbsturteil erfolgloses Studium und den Wechsel in einen unprätentiösen, meinem heutigen Brotjob. Als ich nach vielen Wochen der Trauer aus dem Tief auftauchte, dachte ich, das sei ein für allemal erledigt. Wie naiv sich diese Überzeugung heute liest. Es folgten weitere Episoden, in denen das Leben meine neuen Erkenntnisse auf die Probe stellte. Mein Trainingsfeld hieß Aushalten, die überwältigenden Gefühle, den Drang zu fliehen oder zu kämpfen, den Hang zu Selbsthass und -zerstörung. Mein Vorsatz lautete fortan Impulskontrolle im Augenblick und gut, gnädig oder auch liebevoll mit mir selbst umzugehen. Ich lernte, emotional für mich zu sorgen ohne mich komplett zu verschließen, lernte den Anspruch auf Perfektionismus abzulegen und mich mit all meinen Fehlern anzunehmen. Zum Glück standen mir Menschen zur Seite, die es gut mit mir meinten. Eine mütterliche Freundin, ein Tanzlehrer und eine Gruppe Trainierender, bei denen ich das erste Mal in meinem Leben Gruppenzugehörigkeit erlebte. Ich konnte immer besser mit mir umgehen, wurde von der Anerkennung anderer unabhängiger und lernte, gesunde Grenzen zu ziehen. Konfliktmanagement war meine alltägliche Herausforderung im neuen Job. Auch heute noch möchte ich mich bei schwierigen Passagieren lieber hinter dem nächsten Kabinenvorhang verstecken. Zu einer guten Lösung komme ich nur, wenn ich die innere Aufregung aushalte und mich stark auf ein selbsternanntes Gesprächsziel konzentriere. Manchmal frage ich mich aber schon, wieso gerade ich mit dieser Vorgeschichte eine Führungsposition im Dienstleistungsbereich gewählt habe. Die einstige Therapeutin beschrieb mein Verhalten mit dem Bild der Faust in der Tasche. Das mag ich sehr gerne, genau wie ich die stillen Rebellierenden bewundere. Und eines Tages fühlte ich mich bereit für die Königsdisziplin: eine intime Beziehung.

Unterschätzt hatte ich allerdings, dass sich Unsicherheiten und Prägungen von zwei Personen in einem Pool vermischen. Mit dem besonderen Mann begegnete mir einer, der nicht flüchtet, nicht die Beziehung bei jeder Eskalation in Frage stellt und zur Auseinandersetzung bereit ist. Gleichzeitig fühlt er sich oft von mir angegriffen, von meinem Wissen bedroht und kann in Folge seinen Anteil an der Auseinandersetzung von meinem schwer trennen. Natürlich wünsche ich mir jemanden, der mich auch in schwierigen Zeiten aushalten kann und Fragen stellt statt Ratschläge verteilt, der weniger Kritik und dafür mehr Bestätigung oder Beistand gibt und der insgesamt innerlich aufgeräumt ist. Wenn ich mir aber meinen Werdegang ansehe, ahne ich auch, dass mir ein Leben ohne Herausforderung zu langweilig wird. Komorbidität, my ass. Wären Menschen mit Diagnosen so einfach einzuordnen, kämen wir mit gedruckten Gebrauchsanweisungen daher. Typisch ist halt überhaupt nicht mein Ding. Typisch sind aber meine Symptome des PTSD, fight&flight, Wahrnehmungseinschränkung, adrenalingesteuerter Realitätsverlust, verbaler Schlagabtausch, innere Verzweiflung, Angst vor Alleinsein und dem damit assoziierten Sterben. Mein Gegenüber wird vor meinem inneren Auge zum Tiger, vor dem ich mich schützen muss, obwohl wir eigentlich nur über lapidare Themen wie Haushaltsführung gesprochen haben. Da schlägt meine Konditionierung voll durch. In der letzten Eskalationsstufe fühle ich mich komplett unzulänglich, wertlos und möchte nicht nur vor der Situation, sondern meinem Leben ganz allgemein flüchten.

Kürzlich befand ich mich drei Tage lang in genau diesem Zustand. Als das Adrenalin aus meinem Körper wich, als wir die Situation lösten, setzte eine Endorphinschwemme ein, die mich nicht schlafen ließ. Das war am Tag vor einem Flug. Also saß ich bis drei Uhr morgens an diesem Text, obwohl ich wenige Stunden später zum Flughafen aufbrechen musste. Sie können sich das wie bei einem Autounfall vorstellen. Erst spüren Sie nichts, später ganz viel. Meine inneren Unfälle sind unglaublich kraftraubend. Dann kommt mir auf dem Flug ein Passagier unter, der mich beschimpft. Wieder Adrenalin bis Unterkante Oberlippe, das über Stunden anhält. Die folgende Nacht ist erneut im Eimer. Dann Rückflug mit Verhaltenskorrektur einer Kollegin. Ich spüre sofort ihre Ablehnung, bin übermüdet, möchte nach Abschluss des Fluges weinen, weil damit meine größte Angst, das Ausgeschlossensein und damit einhergehende Einsamkeit getriggert wird. Die Möglichkeiten für ein Einsetzen dieser Reaktionen sind unendlich. Inzwischen sind es aber auch meine Möglichkeiten, mir selbst zu helfen. Eine Bewältigungsstrategie ist, Erlebnisse in launige Texte zu verpacken. So schaffe ich seit 17 Jahren hier den Abstand zwischen meiner inneren Aufruhr und dem äusseren Ereignis. So machen es übrigens auch sehr viele Kreative. Denken sie mal darüber nach, wieso so viele Darstellende in Abhängigkeit oder gar Suizid enden. Ein anderer Weg ist, die Mutigen wahrzunehmen, die von sich und ihrem Scheitern berichten. Sie rücken die Welt der Hochglanzmedien wieder in eine menschliche Ecke, im Internet und im persönlichen Austausch. Empfehlen möchte ich in diesem Zusammenhang die Therapeutin Dr. Nicole LePera, die mir mit ihren Beiträgen zu vielen Aha-Momenten verhalf. Ein Buch, das mich vor langer Zeit in meiner Wahrnehmung bestärkte ist Waking the Tiger von John A. Levine. Und wenn garnix hilft, steht irgendwo immer ein weiches Bett mit einer Decke, die ich über den Kopf ziehe. Meine mütterliche Freundin hat ihrer eigenen Aussage gemäß viele schlimme Stunden ihres Lebens mit Schlaf überstanden. So mache ich das die nächsten Tage auch.

Dieser lange Erfahrungsbericht drängt nach draussen. Es gäbe noch so viel zu ergänzen oder zu verbessern, ich habe aber beschlossen, das jetzt mal stehenzulassen. Mir liegt an Ihrem Feedback – egal ob Erfahrungsbericht oder Zuspruch, ob kritische Anmerkung oder Verriss. Nur mit den Ratschlägen halten Sie sich bitte zurück, denn die brauche ich so wenig wie Pickel in den Achselhöhlen. Und wundern Sie sich nicht, wenn ich die nächsten 10 Tage nicht darauf reagieren. So eine Geburt ist anstrengend, weshalb ich mich jetzt ein bisschen schonen muss.

13 Gedanken zu „The Beast“

  1. Danke, dass ich an Ihren Gedanken teilhaben darf. Ihre Texte berühren mich tief und lösen sehr verschiedene, ungewohnte Emotionen aus. Sie fassen in klare Worte was ich oft nur diffus für mich wahrnehmen kann.
    Vielen Dank

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  2. Ich bin sehr berührt und ziehe den imaginären Hut, wie Sie es bis hierhin und zu diesem Text geschafft haben. Sollte jemand mit Ablehnung oder Ratschlägen reagieren, so schicken Sie ihn gerne zu mir, ich werde ihn verbal ins K.o. bringen.
    Schlafen Sie jetzt erstmal gut und wachen Sie erholt und froh auf!

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  3. Danke fürs Aufschreiben und Teilen! Ich finde mich in Vielem wieder und es tröstet, nicht allein damit zu sein.
    Das schreibe ich gerade im Bett liegend, trotz Kinder und Besuch in der Wohnung… Eine kleine Bemerkung von Jemandem vorhin hat gereicht, dass ich mich so mies zum Verkriechen fühle. Es reicht nicht, das von Verstand her zu durchblicken, dass ich mich deswegen nicht so schlecht fühlen brauche. Bett und Decke helfen da oft am besten und irgendwann krieche ich wieder hervor.
    Das meiste, was ich in der Kindheit und Jugend erlebt habe, habe ich so gut verdrängt, ich erinnere mich kaum, auch nicht mit Therapie. Wenn meine Schwester davon manchmal erzählt, fällt mir manches wieder ein und dann „vergesse“ ich es wieder, relativ unabsichtlich. Verdrängen kann ich richtig gut, zu gut, ich komme da gar nicht raus, aber die von dir beschrieben Verhaltensmuster brechen sich dennoch Bahn. Mit nahen Menschen eher in Form des Kampfes, ansonsten eher die Flucht. Alles Gute für deinen Weg!

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  4. Danke fürs Aufschreiben. Ich erkenne mich in vielem, nur null in der Aufarbeitung. Ich habe all das in eine fest verschlossene Kiste gepackt mental und rühre die nicht an, ausser man zwingt mich. Noch funktioniert das. Alles Gute und DANKE!

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