Things We Don’t Know About

Jeden Tag ordnet mein Kopf Fakten nach richtig oder falsch, Situationen nach schön oder doof und Menschen nach gut oder böse ein. Wäre die Welt und alles darin im Wesen dichotom, würde der Ordnungsprozess gut funktionieren. Für manche Personen tut er das auch.Es handelt sich um solche, die in derartig starren Kategorien vermeindlich Sicherheit finden, um nicht zu sagen einen Fluchtweg vor inellektueller Überforderung. Doch so sehr wir uns auch nach einfachen Strukturen sehnen, das Leben funktioniert nach seinen eigenen Regeln und hat immer noch eine Überraschung parat.

Wie bereits an anderer Stelle geschrieben, war meine Oma die wichtigste Bezugsperson in meiner Kindheit. Sie umsorgte mich nicht nur jeden Tag, sondern tröstete, erzählte, lauschte und streichelte, hielt meine Hand und mein kleines Herz. Von ihr lernte ich Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, niemals zu lügen und gut zu anderen Menschen zu sein, egal wie sie aussehen oder woran sie glauben. Nie hörte ich sie über jemanden schlecht reden. Sie war eine einfache Frau mit dem Herzen am richtigen Fleck und einem gesunden Maß an praktischer Intelligenz. In die Familie eines Sattlers als viertes oder fünftes Kind von acht während des I. Weltkrieges hineingeboren, lernte sie schnell, für sich selbst zu sorgen. Bei sieben Mädchen reichte die Mitgift nicht für alle. Der einzige Sohn erbte das väterliche Geschäft. Kurz vor dem nächsten Krieg heiratete sie, bekam zwei Kinder, von denen nur eines überlebte, und war am Ende Witwe. Die Schwiegerfamilie wollte sie nicht, weshalb sie sich als Dienstmädchen durchschlug. Knapp drei Jahrzehnte später fand sie ihre Erfüllung in der Versorgung ihres Enkelkindes.

Ein paar persönliche Briefe und einige Bilder gingen nach ihrem Tod in meinen Besitz über. Ich erinnerte mich an ein Portrait eines mittelalten Mannes in Offiziersuniform, auf der Rückseite eine persönliche Widmung. Eigentlich dachte ich immer, das war wohl irgendein Jugendschwarm, ein Techtelmechtel, somit etwas, das mich im Grunde nichts angeht. Aber wieso hob sie gerade dieses Foto auf? War ihr der Mensch so wichtig? Gab es dafür andere Gründe, vielleicht die Hoffnung auf Sicherheit und Schutz? Ich wollte herausfinden, wer dieser Mann auf dem Foto war. Dazu musste ich zunächst seinen Rang bestimmen. Und während ich noch durch eiserne Kreuze und Eichenlaubepauletten in gängigen Suchmaschinen blätterte, fiel mein Blick plötzlich auf genau dieses Foto im Netz. Das schwarzweiße Foto zeigte einen der ranghöchsten Offiziere der N*zizeit, mit denen sich H*tler persönlich umgab.

Ich bin spät dran mit der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte, wohl weil ich aufgrund äusserer Umstände nie mit einer derartigen Verstrickung gerechnet hätte. Nun bin ich dementsprechend schockiert. Gerne würde ich dieses Kapitel mit einer einfachen Erklärung von der Bildfläche wischen, doch da ist mehr. Die genauen Hintergründe werde ich nie mehr erfahren, die Widersprüchlichkeit lässt mir aber keine Ruhe. Wie konnte meine geliebte Oma, der liebevollste Mensch, den ich je kannte, in Bezug zu jemandem stehen, der seinen Anteil an der dunkelsten Ära deutscher Geschichte hatte? Es beschäftigt mich auf mehreren Ebenen zugleich. Die Sicht auf meine Oma wird sich dadurch nicht ändern, die auf mich selber möglicherweise schon.

Mein Motto lautet: wer bin ich, dass ich über einen Menschen urteile, ohne die Umstände zu kennen und mich dadurch über andere erhebe? Kann ich mit absoluter Sicherheit behaupten, ich hätte anders gehandelt? Ich will nicht sagen, dass die Umstände alles reinwaschen. Es braucht jedoch eine differenziertere Betrachtung als nur Gut oder Böse. Womit wir wieder am Anfang wären und was es bedeutet, Mensch zu sein. Denn die Frage, woher das Böse stammt, beschäftigt Philosophie und Psychologie seit je her und besonders nach 1945. Denken wir an das Milgram-Experiment oder Hanna Arendts Begriff von der Banalität des Bösen. Das Böse ist in jeder und jedem von uns. Die Ausführung und Einordnung des Handelns hängt aber vor allem von Denkvermögen und der Fähigkeit ab, sich in eine andere Person hineinzuversetzen. Es bedeutet anzuerkennen, wie groß die Versuchung ist, Werte über Bord zu werfen, wenn’s um die eigene Haut geht und wie viel Widerstandskraft nötig. Es bedeutet auch, die eigene menschliche Schwäche anzuerkennen und in Folge nachsichtiger zu urteilen. Es bedeutet nicht, Unrecht und Leid zu tolerieren. Und vielleicht sollten wir generell mehr Energie in die Verhinderung von Leid stecken als in Einordnung und Beurteilung, in Meinung und Identifikation. Denn am Ende reicht die Kraft nur noch für ein beifälliges ‚gefällt mir‘, das ausser einem Algorithmus nichts befeuert.

Die Geschichte meiner Oma ist übrigens schnell zu Ende erzählt, zumindest das, was ich mir aus den spärlichen Erinnerungen und anderen Informationen zusammenreime. Gemeinsam mit einer ihrer Schwestern – ebenfalls verwitwet und für drei Kinder sorgend – bemühte sie sich um eine Anstellung in einem adeligen Haushalt (Beileidsschreiben verfasst von der Frau Baronin von und zu), wurde weiterempfohlen und landete schließlich bei einer gut situierten Familie, in deren Haus auch der ein oder andere hochrangige Altn*zi verkehrte. Die hatten sich nämlich – so las ich im Netz – nach Krieg und verkürzter Haft in einem Selbsthilfeverband zusammengerottet. Und wo sich Firmenchefs um Entlastungsbeweise bemühten, dort hielten sich die Herren besonders gerne auf. Ihrem Sohn wären diese Verbindungen bei einer Einstiegsposition ebenfalls zugute gekommen, hätte der’s nicht durch seine Eskapaden versaut. Ich bin mir sicher, für Oma zählte statt großer Gefühle nur die Sorge um existentielle Sicherheit, nach dem Motto, wer weiß, wofür diese Bekanntschaft noch gut sein kann. Übrigens ist ihr damaliger Wohnort im Süden Deutschlands heute eine kleine AfD-Hochburg. Und die Seilschaften funktionieren immer noch.

2 Gedanken zu „Things We Don’t Know About“

  1. Puh.
    („Im persönlichen Umgang war aber immer sehr nett“, hörte ich kürzlich über einen Firmentyrannen. „Hat man über Adolf Hitler ja auch gesagt“, plumpste mir raus. Will sagen: Zwischenmenschlicher Umgang lässt wirklich leicht das Über-Zwischenmenschliche vergessen, das halte ich mir vor Augen.)

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