Fourtytwo

Im Abgleich mit einem durchschnittlichen Lebensverlauf habe ich mein Leben quasi rückwärts gelebt. Groß- und selbständig werden, Studium, Beruf, Selbstverwirklichung, alles lief bei mir in umgekehrter Reihenfolge. Als Kind war ich die Erwachsene, vernünftig und selbständig. Während die Mitschüler bei jedem Anruf der Eltern im Schullandheim die Augen rollten, hätte ich mir nichts mehr als einen einzigen Anruf gewünscht. Eine einzige Nachfrage, ob es mir gut gehe. Während sich meine Schulfreundinnen bei der ersten Menstruation oder dem Liebeskummer an die Mutter wandten, bekam ich Tampons vor die Türe gelegt und erntete ein Schulterzucken auf meine Tränen. Während andere Familienausflüge machten, musste ich mich über den Tag selbst beschäftigen und hatte Glück, wenn ich den ‚Neuen‘ meiner Mutter namentlich vorgestellt bekam.

Die Wahl des Musikstudiums wurde mit den Worten „musst Du wissen“ quittiert und Konzerttermine kollidierten mit Reiseplänen. Was ich tat, läuft allgemein unter dem Motto Selbstverwirklichung. Und das tun normalerweise Menschen, nachdem sie sich aus Jobzwängen befreien, meist mit einem gewissen finanziellen Hintergrund. Ich hingegen kämpfte für mehr Sicherheit, für einen Lebensrahmen, der so nicht gegeben war, während ich gleichzeitig meinen Gefühlen doch für die Kunst freien Lauf lassen sollte. Meine Gefühle waren eher desolat, verzweifelt, wütend, emotional hungernd.

Meine Werte kollidierten regelmäßig mit denen anderer, denn für mich war klar, nicht Geld und Status sind in dieser Welt wichtig, nicht Sicherheit und Ansehen, sondern Liebe und Entwicklung, die automatisch Unsicherheit mit sich bringen. Irgendwann nach vielen Gesprächen und einer ersten, kurzen Therapie, war ich soweit, den anderen Weg auszuprobieren. Also suchte ich mir einen Job für die finanzielle Sicherheit und Bekannte mit einem anderen Lebenskonzept. In der Kunstszene gab es ohnehin nicht viele auf meiner Wellenlänge. Die mit sich selbst Hadernden, in Süchte abgerutschten und Belasteten taten mir nicht gut. Das war ich innerlich selbst.

Das Konzept Familie schien mir sehr zuträglich für Stabilität und Sicherheit. Natürlich übersah ich die Herausforderungen, denn in meinem Kopf waren da gemeinsame Sonn-, Feier- und Alltage. Überhaupt war Gemeinschaft das, wonach ich mich am meisten sehnte. Da die Voraussetzungen für Beziehung aber denkbar schlechte waren, begann ich an mir zu arbeiten. Mir wurde geraten, Freundschaften durch Hobbies zu schließen. Doch weder aus dem Tauch- noch dem Tanzkreis blieben Freundschaften hängen. Die Menschen waren einfach zu anders als ich. Während meiner Tanzpausen aufgrund von Verletzungen blieb das Telefon stumm, meine eigenen Kontaktbemühungen liefen in’s Leere. Tja, Familie, my ass. Die meisten Leute waren auf ihre Wochenenden fixiert, die sie dann wiederum im familiären Kontext verbrachten.

Ich lese oft von der Sehnsucht dieser Menschen nach Freizeit, nach Ruhe. Ich selbst habe gerade zu viel davon. So viel, dass mein Kopf nicht wirklich zur Ruhe kommt. Ich mache das, was mir geraten wurde. Regelmäßigkeit im Essen, Schlafen und Sport, Bewegung in der Natur und Sonnenlicht. Doch meine Tage sind nicht ausgefüllt. Ich habe Angst vor diesen leeren Kalendertagen. Man sagte mir, ich solle mir eine Beschäftigung suchen, einen Nebenjob vielleicht, etwas, das mich unter die Menschen bringt und mich ablenkt. Und dann denke ich, hier schließt sich der Kreis der Bemühungen, aus der Hölle Menschsein zu entkommen.

3 Gedanken zu „Fourtytwo“

    • Ja, die vollen Tage sind oft überwältigend und das Ruhebedürfnis wächst. Mir begegnet dieses Rückwärts durch zu viel Freiraum, zu viele Tage, an denen mir die Kraft für Strukturierung fehlt, an denen die Gedanken sich im eigenen Strudel verfangen und ich sie gewaltsam stoppen muss, um nicht hinuntergerissen zu werden.

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  1. manche von dir beschrieben gefühle kann ich gut nachspüren, kenne sie von mir. meine zweifel an mir werden seit corona grösser: bin ich seltsam? bin ich zu verbindlich? wenn ich sage, ich möchte jemanden wiedersehen, meine ich das auch. andere sagen das, tun aber nie etwas dafür, dass die treffen auch stattfinden, oder kommen vorbei. es kann aber doch nicht sein, dass jede begegnung von meinem verbindlichen nachhaken abhängt. dränge ich mich auf? bin ich anstrengend? irgendwie bin ich draussen, obwohl ich vor jahren sehr drin war. so zog ich mich zurück, wurde müde. dabei will ich doch einfach manchmal auf einen kaffee zusammensitzen, klönen und lachen. ist es eine alterserscheinung? ich bin nun über 70, einige freundinnen und freunde gestorben, ich gehbehindert.

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