My Heart Will Go On

Wenn andere zur Arbeit gehen, erwartet sie größtenteils Routine, vielleicht ausnahmsweise mal ein ausserordentliches Meeting, eine andersgeartete einmalige Situation oder ein Betriebsausflug. Wenn ich zur Arbeit gehe, dann weiß ich nie, was auf mich zukommt. Bestenfalls verläuft alles nach Plan, schlimmstenfalls muss ich nicht nur improvisieren, sondern bin auch Situationen ausgesetzt, für die ich grundsätzlich ausgebildet bin, in denen aber die Theorie stark von der Praxis abweicht. Das habe ich mit medizinischem Personal, Bombenentschärfern und Stunt(wo)men gemein. Genau das mag ich an meinem Job. Meine Stärke ist Improvisation, schnelles Reagieren (thinking on my feet lässt sich leider nicht gut übersetzen) und Krisenmanagement. Alles andere langweilte mich einst. Heute sieht das etwas anders aus, denn heute bin ich von der traumabedingten Adrenalinabhängigkeit geheilt.

Heute bin ich angreifbar. Mein Herz schmilzt bei schönen Geschichten, mein Mund reagiert mit Aaaaw auf niedliche Tiervideos und meine Empathie ist überbordend, wenn auch nicht grenzenlos. Hormone setzen an den unpassendsten Stellen Wasser in meinen Augen frei und meine Nerven sind auch nicht mehr so stark wie einst meine Bauchmuskulatur. Das muss dieses Älterwerden sein, von dem alle berichten. Gibt auch Gutes, etwa wachsende Nachsicht und durchweichte Prinzipien, dafür stabile Abgrenzung und Selbstfürsorge. Die neue Weichheit steht mir halt in wirklich schwierigen Situationen im Weg. Gestern beispielsweise, da hatte ich mal wieder einen sogenannten „medizinischen Notfall“ an Board. Es gibt Flugpersonal, das fliegt seit 25 Jahren und erlebt höchstens mal einen ohnmächtigen Passagier, der einem beim Zu-sich-kommen über die Hände kotzt. Nicht so bei mir. Ich habe da scheinbar ein Abo drauf. Von Hirnblutung bis Wiederbelebung war bei mir in den vergangenen Jahren in regelmäßigen Abständen alles dabei – wobei man fairerweise sagen muss, dass durch Herzdruckmassage allein noch nie wer in’s Leben zurückkehrte, sondern die Blutzirkulation unter Zufuhr von Sauerstoff einfach künstlich aufrechterhalten bleibt bis wer kommt und entweder den Tod feststellt oder aber Sachen gespritzt werden, die dann das Herz beim Anspringen unterstützen.

Gestern wieder so ein Fall. Langer Nachtflug, kurz vor Landung werden die Passagiere zum Frühstück geweckt. Manche möchten länger schlafen, die wecken wir dann zur Landung. Die betreffende Frau ließ sich nur schwer wecken, reagierte sonst aber sehr freundlich mit Nicken und Lächeln. Nach der Landung versuchte ich vergebens, sie zum Schuhe Anziehen zu bewegen, während sie auf meine Anweisungen mit Nicken und Lächeln reagierte, dann aber wieder einschlief. Auf Bewusstseinstrübung hätte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht getippt, eher auf Schlaftabletten. Die Notäztin stellte dann eine Hypoglykämie in Kombination mit niedrigen Cortisolwerten fest. Sie erklärte uns, dass es beim Fliegen immer wieder zum sogenannten Addison-Syndrom käme, bei dem die Nebennieren zu wenig Cortison freisetzen und das in Kombination mit Hypoglykämie scheißgefährlich sei. Diabetiker kennen die Brisanz der Stunde. Geschult bin ich, sowas zu erkennen. Ich muss zugeben, mein Denken machte mir einen Strich durch die Rechnung. Denn während ich früher schnell in ein trainiertes Verfahren eingestiegen wäre, zögerte ich gestern zu lange. Situationen umdeuten und nicht immer das Schlimmste antizipieren, sowas lernt man in einer Therapie. Es hilft mir, den persönlichen Alltag dramafrei zu gestalten, steht mir aber bei beruflichen Gefahrensituationen im Weg. Keine Ahnung wie Notärzt:innen und Feuerwehrpersonal das machen, ich bin jedenfalls auch heute noch schockiert – nicht von der Situation, denn die ging gut aus, sondern von meinem Fehlverhalten.

2 Gedanken zu „My Heart Will Go On“

  1. Alle Achtung! Das sind berufliche Herausforderungen, die ein starkes Nervenkostüm fordern.

    Und ja, es ist dieses Älterwerden, dass uns so „rührselig“ werden lässt. Hormone mögen ihren Teil dazu beitragen, aber was haben wir doch schon an Erfahrungen und Verlusten hinter uns. Da mag man noch so rational unterwegs sein, unser Körper reagiert auf seine Weise emotional.

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